Beim lesen von Phillip Yancey’s „Der unbekannte Jesus„ bin ich auf die alten Bekannten gestoßen: Leo Tolstoi und Fedor Dostojewski. Dieses Mal nicht in der Rolle der brillanten Schriftsteller (in der Schule waren beide Pflicht), sondern als Menschen die versuchten Jesus zu begreifen. Diese Suche findet man auch in ihren Werken, wie: „Schuld und Sühne“, „Die Brüder Karamasoff“ (Dostojewski) oder „Die Auferstehung“ (Tolstoi).
Tolstoi war von den ethischen Idealen in den Evangelien magisch angezogen, obwohl sein Unvermögen, sie in die Tat umzusetzen, ihn schließlich verzehrte. Wie die Wiedertäufer bemühte sich Tolstoi, die Bergpredigt wörtlich umzusetzen. Bald fühlte seine Familie sich als Opfer seiner Bemühungen um Heiligkeit. Als er zum Beispiel gelesen hatte, dass Jesus dem reichen Mann auftrug, alles wegzugeben, gab Tolstoi Leibeigene frei, verschenkte seine Urheberrechte und seinen riesigen Grundbesitz. Er trug Bauernkleidung, machte seine Schuhe selbst und arbeitete auf den Feldern.
Aber alle seine Versuche, den Ansprüchen Gottes aus der Bergpredigt gerecht zu werden schlugen fehl. Zum Schluss floh er von seiner Familie, seinem Ruhm, seinem Besitz, seiner Identität und starb als Landstreicher in einem ländlichen Bahnhof.
An seine Kritiker schrieb er Folgendes:
»Was ist mit Ihnen, Lev Nikolawich, Sie predigen so gut, aber halten Sie sich auch selbst daran?«
Das ist eine ganz natürliche Frage und sie wird mir immer wieder gestellt. Sie wird gewöhnlich triumphierend gestellt, so als wäre sie ein Mittel, um mir den Mund zu stopfen. »Sie predigen, aber wie leben Sie selbst?« Und ich erwidere, dass ich nicht predige, dass ich dazu gar nicht fähig bin, obwohl ich es mir wünschte. Ich kann nur durch mein Verhalten predigen und mein Verhalten ist schlecht. (…) Und ich sage, dass ich schuldig bin und niederträchtig und Verachtung verdiene für mein Versagen.
Zugleich sage ich, nicht um mich zu rechtfertigen, sondern um meine Inkonsequenz zu erklären: »Sehen Sie sich mein jetziges und mein früheres Leben an. Daran werden Sie sehen, dass ich mich bemühe, sie [die christlichen Gebote] zu erfüllen. Es ist wahr, dass ich nicht ein Tausendstel davon befolge. Das beschämt mich. Ich habe sie nicht erfüllt, nicht, weil ich es nicht wollte, sondern weil ich es nicht konnte. Zeigen Sie mir, wie ich dem Netz von Versuchungen um mich herum entgehen kann. Helfen Sie mir, und ich werde sie erfüllen; selbst ohne Hilfe wünsche und hoffe ich sie zu erfüllen.
Greifen Sie mich an, ich selbst tue es ja auch, aber greifen Sie mich an und nicht den Weg, den ich gehe und auf den ich jeden aufmerksam machen möchte, der mich fragt, wo er liegen könnte. Wenn ich den Weg nach Hause kenne und ihn betrunken gehe, ist es deshalb weniger der richtige Weg, auch wenn ich von einer Seite zur anderen schwanke? Wenn es nicht der richtige Weg ist, zeigen Sie mir einen anderen. Aber wenn ich schwanke und vom Weg abkomme, müssen Sie mir auf den richtigen Pfad helfen, genauso wie ich Ihnen helfen möchte. Führen Sie mich nicht in die Irre, freuen Sie sich nicht daran, dass ich mich verirrt habe. Rufen Sie nicht voller Freude aus: »Seht euch den an! Er hat gesagt, er gehe heim und nun kriecht er in den Sumpf!« Nein, lachen Sie mich nicht aus, sondern seien Sie mir Hilfe und Stütze.«
Tolstoi starb ohne zu verstehen was Gnade ist.